Kümmerlicher Fischzug

In Kanadas Westen gibt es weniger Lachse. Schadstoffe und Klimawandel setzen ihnen zu

Berliner Zeitung, 12.12.2006

Jens Wieting

Unter den vom Moos überwucherten Bäumen huschen zahlreiche dunkle Schatten durch das Bachbett. Es sind Lachse, die aus dem Pazifik zu ihren Laichgründen zurückkehren. Der kanadische Goldstream Provincial Park nahe Victoria, der Hauptstadt der Provinz British Columbia, ist bei Naturfreunden berühmt für den Lachszug im Herbst. Alljährlich kommen zehntausende Tiere. Sie legen ihre Eier im Kies ab und beenden damit ihren Lebenszyklus. Die toten Lachse werden rasch zum Festmahl für Möwen, Krähen und zahlreiche andere Tiere.

Doch ihr Schmaus ist in Gefahr, denn der Lachszug ebbt seit einiger Zeit ab. "Dieses Jahr kommen schon wieder weniger Lachse als in früheren Jahren", sagt der Biologe Darren Copley. Er arbeitet für die Parkverwaltung und beobachtet seit fünfzehn Jahren den Lachszug im Goldstream River. Copley hat eine Tafel installiert, die anzeigt wie viele Lachse zurückkehren. 2003 und 2004 kamen noch mehr als 20 000 Lachse wieder in den Goldstream. 2005 waren es nur etwa 5 000, in diesem Jahr zwar wieder 15 000, aber das sind Copley immer noch zu wenig. "Eigentlich sollten im Herbst insgesamt etwa 60 000 Lachse durch den Park ziehen," sagt der Biologe. Fast alle Heimkehrer gehörten in diesem Jahr zur Art der Hundslachse. Eigentlich müssten auch Königs- und Silberlachse kommen - doch von diesen beiden Arten wurden 2006 nur jeweils 40 Exemplare gezählt.

Warum sich die Lachse immer rarer machen, ist noch nicht klar. Die Ursache herauszufinden ist nicht einfach: Immerhin liegen zwischen dem Aufbruch der Fischbrut und der Rückkehr ins Laichgebiet bis zu zehn Jahre. In dieser Zeit können die Tiere 4 000 Kilometer zurücklegen.

Copley vermutet, dass der Rückgang der Lachse mehrere Ursachen hat. Vor allem der intensive Fischfang, die weiträumige Abholzung und Erosion in den Tälern sowie die wachsende Schadstoffbelastung der Gewässer tragen seiner Ansicht nach dazu bei, dass immer weniger Tiere zum Laichen zurückkehren.

Lachse verfügen über einen feinen Geruchssinn. Sie können die Wassermischung ihres Heimatgewässers erkennen und finden so vermutlich den Weg zum Laichplatz. Diese Orientierung ist jedoch gestört, wenn die Schadstoffbelastung der Flüsse zunimmt.

"Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass Umweltgifte das Verhalten der Lachse verändern und ihr Immunsystem beeinträchtigen", sagt Peter Ross, Toxikologe am Institut für Ozeanwissenschaften im nördlich von Victoria gelegenen Sidney. Im Fraser River etwa ist die Anzahl der Lachse um 90 Prozent zurückgegangen. Der 1 400 Kilometer lange Fluss mündet bei Vancouver ins Meer und ist stark belastet durch Abwässer von Städten, Industrie und Landwirtschaft.

Auch der Klimawandel trägt zum Rückgang der Lachse bei, vermutet Copley. In den letzten Jahren hat sich das Meeresgebiet vor der Westküste Kanadas erwärmt. Dadurch stand den Fischen weniger Nahrung zur Verfügung. "Warme Wasserschichten an der Meeresoberfläche blockieren aufsteigende nährstoffreiche Strömungen, die für das Wachstum von Plankton sorgen", erläutert Copley. Diese Kleinstlebewesen stehen am Anfang der Nahrungsketten im Meer und sind somit auch für die Lachse wichtig.

Die klimatischen Veränderungen sind wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass sich der Lachszug in den Goldstream River immer mehr verzögert. "Vor 15 Jahren kamen die Lachse im Durchschnitt zwei Wochen früher zurück als heute", sagt Copley. Dieses Jahr dauerte die regenarme Zeit auf Vancouver Island bis in den Oktober statt bis Anfang September, und viele Bäche führten kaum noch Wasser. Die Lachse im Ozean warten aber auf eine Zunahme der Wassermengen in den Mündungsgebieten - sie bevorzugen eine kräftige Strömung, um flussaufwärts zu schwimmen und meiden ruhiges Wasser.

Der Rückgang der Lachse hat auch für die Wälder, in denen die Laichplätze der Tiere gelegen sind, gravierende Folgen. Tom Reimchen, Biologe an der University of Victoria, hat in Studien nachgewiesen, dass die Lachse die Artenvielfalt in den Küstenwäldern entscheidend beeinflussen.

Dem Biologen war aufgefallen, dass viele der riesigen Urwaldbäume in den Tälern wachsen, in denen Bären und andere Tiere die Reste erbeuteter Lachse verstreuen. Er analysierte Vegetationsproben aus dem Regenwald und stellte fest, dass sich Stickstoff-15, ein Isotop, das sich vor allem in der Nahrungskette im Meer anreichert, im kanadischen Urwald wiederfindet. Der Biologe hat berechnet, dass die Lachse alljährlich 120 Kilogramm Stickstoffdünger pro Hektar in die Waldgebiete transportieren. Bären und andere Lachsfresser verteilen den Dünger.

Neben Grizzly- und Schwarzbären ernähren sich auch Marder, Weißkopfseeadler, Möwen und andere Vögel von Lachsen. Außerdem zehren Insektenlarven von den Fischkadavern. Im Frühjahr finden deshalb auch die Singvögel reichlich Nahrung. "Täler, in deren Bächen Lachse ziehen, weisen die doppelte Anzahl an Insekten- und Vogelarten auf", sagt Reimchen.

Doch die Lachse profitieren auch vom Wald. Wenn die Pflanzen absterben, geben diese die gespeicherten Nährstoffe wieder frei. Dann gelangen die Stickstoffverbindungen in die Gewässer, wo sie Pflanzen und Insekten versorgen. Von Pflanzenteilen und Insekten wiederum ernährt sich die neue Lachsbrut nach dem Schlüpfen.

"Der Wald braucht die Lachse ebenso, wie die Lachse den Wald brauchen", sagt Reimchen. "Deshalb müssen Lachsfang und Abholzung der Wälder eingeschränkt werden, wenn wir die Artenvielfalt an Kanadas Westküste erhalten wollen."